Wolfgang Schulz und Stephan Dreyer üben deutliche Kritik an dem Diskussionsentwurf eines neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrags. Das dort vorgestellte Konzept der „Jugendschutzvorrichtung“ auf Betriebssystemebene, so eine Art aktivierbarer Kinderschutzmodus, erscheint sehr aufwändig und komplex im Vergleich zu der erwartbaren Umsetzung und ihren Effekten. Rechtlich und technisch weist der Entwurf viele problematische Aspekte auf.
Aus der Einleitung
Die Rundfunkkommission der Länder hat im April 2022 einen Diskussionsentwurf zur Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) vorgelegt. Das Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) nimmt die derzeit laufende Konsultationsphase zum Anlass, Stellung zu dem Entwurf zu nehmen. Als Medienforschungsinstitut, das sich seit vielen Jahren mit konzeptionellen Beiträgen, juristischen Gutachten und empirischer Forschung aktiv und interdisziplinär an den medienpolitischen und rechtlichen Diskursen im Kinder- und Jugendmedienschutz beteiligt, bringt das HBI seine Expertise gerne mit in den Konsultationsprozess ein.
Das HBI begrüßt grundsätzlich eine Weiterentwicklung des bestehenden Ordnungsrahmens im Jugendmedienschutz durch gesetzliche Reformen, die (a) die Konvergenz und Abgestimmtheit der beiden Regelungsrahmen auf Bundes- und auf Länderebene weitertreiben, die (b) die innerhalb des rechtlich Möglichen und Sinnvollen auf neue Steuerungsherausforderungen durch neue Medienangebote und -akteure, aktuelle Mediennutzungsformen von Kindern und Jugendlichen sowie grenzüberschreitende Sachverhalte reagieren und (c) dabei dezidiert kinderrechtliche Vorgaben und Aspekte berücksichtigen.
Im wissenschaftlichen wie im medienpolitischen Diskurs ist daneben seit über zehn Jahren klar, dass die Meta-Herausforderungen in der regulatorischen Berücksichtigung
- der Ausgestaltung eines dynamischen Jugendmedienschutzsystems, das flexibel mit stetigen Veränderungen auf der Angebots- und Nutzerseite umgehen kann,
- der Vermehrung, Ausweitung und Ausdifferenzierung der Risiken und ihrer Ursprünge, die teils unterschiedliche Steuerungsansätze notwendig machen können,
- der Ausdifferenzierung der Risiken auf Seiten der Kinder und der unterschiedlichen, alters-abhängigen Risikovarianz,
- der Akzeptanz sinkender Schutzhöhen in Fällen, in denen Kinder und Jugendliche bewusst nach Grenzübertretungen suchen,
- der wachsenden Anzahl von Anbietern und ihrer heterogenen Strukturen, Organisationsformen und Interessen,
- der Möglichkeiten, Erziehungsberechtigten (wieder) die Übernahme von Erziehungsverantwortung zu ermöglichen, etwa durch die vermehrte Zurverfügungstellung von Informationen und technischen Hilfsmitteln,
- der Möglichkeiten der Digitalisierung von Jugendschutzinstrumenten, d.h. der Überprü-fung der Übertragbarkeit bisheriger Schutzinstrumente in vergleichbare technische Funktionalitäten (z.B. elektronische, maschinenlesbare Alterskennzeichen), sowie
- der grenzüberschreitenden Charakteristika von Medienprodukten, -inhalten und Kommu-nikationsdiensten und der damit verbundenen Notwendigkeit von supranationalen Kooperationen
liegen. Auf diese Herausforderungen des Jugendmedienschutzes geht der vorliegende Entwurf dabei nur zum Teil – und dort mit vor allem verbotsorientierten, klassischen Steuerungsansätzen ein.
Dass hier nicht nur eine Ausdifferenzierung von Angebotstypen, Nutzungspraktiken und Risikophänomenen stattgefunden hat, sondern auch ein deutlicher Bedeutungszuwachs von Kinderrechten, verinnerlicht der Entwurf nicht. Er scheint verhaftet in den ausschließlich auf Schutz bezogenen Steuerungsüberlegungen des JMStV von 2002. Befähigung als Ermöglichung kommunikativer Teilhabe, Formen der Verbesserung des Schutzes und Selbstschutzes bei Risiken aufgrund höchstpersönlicher Kommunikationsumgebungen oder sorgfaltspflichtbezogene Ansätze, die Anbietern je nach Angebot, Nutzendengruppe und Funktionalitäten eine große Bandbreite an Verbesserungs- und Schutzmaßnahmen eröffnen, finden sich in dem Reformentwurf ebenso wenig wie partizipative Ansätze.
Die Berücksichtigung von Kinderrechten aber liegt nicht im Belieben des Gesetzgebers, sondern ist verpflichtende Folge des auf einfachgesetzlicher Ebene aus dem Völkerrecht kommenden Rechtsrahmens und basiert zudem auf einem mit Blick auf das Gebot völkerrechtsfreundlicher Auslegung zu lesenden Verständnis der Kinderrechtskonvention als Orientierungslinie für den verfassungsrechtlichen Jugendschutzauftrag.
Neben dem Kindeswohlprinzip hat (auch) die Legislative den Kindeswillen zu berücksichtigen (Art. 12 VN-KRK). Aus beiden Anforderungen ergeben sich Anforderungen an die Inhalte und das Verfahren der Einführung neuer Rechtsvorgaben, soweit Anliegen von Kindern und Jugendlichen dadurch betroffen sind.