Wie entstehen die community-basierten Inhalte auf der Online-Enzyklopädie Wikipedia und mit welchen Verfahren wird ausgehandelt, was als „Wahrheit“ gelten soll?
Das Seed-Money-Projekt untersucht, wie auf der Plattform Wikipedia Wahrheit generiert wird und wie die community-basierten Inhalte entstehen und untereinander verhandelt werden. Dabei geht es vor allem um die Moderation im Bereich von Inhaltsregulierungen und die Art und Weise, wie z.B. Löschungen und Entscheidungen über die Sperrung von Nutzer:innenaccounts oder nutzer:innengenerierte Inhalte stattfinden. Welche Begriffe von “Wahrheit“ werden community-intern in der Diskussion entwickelt und führen dann zum Ein- und/oder Ausschluss in der Wissensproduktion?
Es stellen sich folgende Forschungsfragen:
- Welcher Begriff von Wahrheit, welcher Begriff von Wissen wird verwendet? Wie wird Wahrheits- und Wissensproduktion differenziert und erklärt?
- Welche Prinzipien der Wahrheit werden verhandelt? Welche Ordnungssysteme liegen vor?
- Wo liegen die Grenzbereiche und wo erfolgen innerhalb des Systems der Wikipedia Sanktionen? Hat diese Grenze sich verschoben, und wenn ja, was sind die Merkmale und Begründungen der Befragten?
Die Ergebnisse der Studie sollen zur Entwicklung von Richtlinien für eine nuancierte Content-Moderation genutzt werden, die sich an demokratischen Standards messen lassen kann.
Erforschung von Wikipedia als inhärentes Konkurrenzsystem neuer Ordnungen von Wahrheit entlang der bestehenden normativen Prinzipien
Wikipedia ist unter den größten Webseiten der Welt die einzige, die gemeinnützig ist und ausschließlich durch Spenden finanziert wird. Die Online-Enzyklopädie wird selbstbestimmt durch partizipative Prozesse der Community verwaltet und scheint den Medienwandel hin zu einem dynamischen Web 2.0 überdauert zu haben: Sie ist nach wie vor ein hochfrequentierter und wichtiger Ort der Selbstinformation für Internetnutzer:innen. Weniger bekannt ist, wie hochwertig ihr ausschließlich auf freiwilligem Engagement basierendes Content-Moderations-System ist.
Aus dem Wissen, was dort kollektiv und in sehr partizipativen Verfahren produziert wird, entsteht eine Basis für die Verhandlung des Begriffs von Wahrheit bei Wikipedianer:innen. Der Begriff dieser Wahrheit, erzeugt durch den internen Austausch im System Wikipedia, beschreibt eine kollektive Annahme der Wissensproduktion, die Definition, was Wahrheit ist, bleibt aber unscharf. Es ist Teil der Studie, die Nuanciertheit dieses Begriffes von Wahrheit innerhalb des Selbstregulierungssystems der Inhaltemoderation zu erfassen.
Zu diesem Aspekt gibt es bereits etablierte Forschungen, besonders zur Diskussionskultur. In dem Bereich von Inhaltsregulierungen jedoch und zur Art und Weise, wie genau interne Entscheidungen entstehen, gibt es bislang wenig systematisch erhobene Studien, insbesondere zur Frage, was davon in Richtlinien für eine nuancierte Content-Moderation genutzt werden könnte, die demokratischen Standards entspräche. Dieser Aspekt der Beforschung von Wikipedia als kollektives System, in dem sich inhärent in Konkurrenz neue Ordnungen von Wahrheit entlang der bestehenden normativen Prinzipien entwickeln, soll in diesem Projekt besonders beleuchtet werden.
Hierfür werden ausgewählte zentrale Akteure der Wissensproduktion und normativ-regulatorischen Ordnung der Wikipedia, wie Administrator:innen, Check-User:innen oder auch Bürokrat:innen, in qualitativen Interviews zum Bereich der systemischen Konkurrenz der Produktion von Wissen und folglich auch Wahrheitssystemen befragt. Dabei sollen besonders die Grenzbereiche und ihre Verschiebungen in den Fokus genommen werden – denn insbesondere eines der wikipedianischen Leitprinzipien, “Wissen entsteht durch Teilen”, scheint auch Hinweise auf die Wahrheitsproduktion und die kollektive Verankerung zu geben.
Foto:
César Romero, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons