Prägend für die Re-Figuration des Journalismus im Allgemeinen sowie der Journalismus/Publikums-Beziehung im Besonderen sind die folgenden Trends einer sich wandelnden Medienlandschaft in Zeiten tiefgreifender Mediatisierung, wie sie im Rahmen des Forschungsnetzwerks
Kommunikative Figurationen identifiziert wurden:
- die Differenzierung der Medien(-kanäle),
- ihre zunehmende Konnektivität auf Basis der Infrastruktur des Internets,
- die Omnipräsenz digitaler Medien durch die Mobilkommunikation,
- das hohe Innovationstempo bei Inhalten, Plattformen und (mobilen) Geräten sowie
- die zunehmende Datafizierung des Alltags durch Digitalisierung und zunehmenden Einsatz von Algorithmen.
Diese Trends haben es neuen – auch nicht-menschlichen Akteuren wie Algorithmen und ‚Social Bots‘ – ermöglicht, sich an öffentlicher Kommunikation zu beteiligen; sie haben eine gleichsam fragmentierte wie vernetzte Medienumgebung entstehen lassen, die es Politik, Wirtschaft und anderen Institutionen ermöglicht, den Journalismus zu umgehen und ihre Publika direkt anzusprechen; und sie förderten neue Normen und steigerten die Erwartungen an den Journalismus im Hinblick auf mehr Transparenz, Responsivität und Offenheit für Beteiligung. In der Summe führten diese und mit ihnen verbundene Entwicklungen zu einer vielschichtigen Krise der Journalismus/Publikums-Beziehung in Form sinkender Reichweiten, Vertrauenswerte und Gewinne. Gleichzeitig hält die neue Medienumgebung jedoch auch Lösungsansätze für diese Probleme bereit, da sie Journalistinnen und Journalisten sowie ihrem Publikum erweiterte Kommunikationsmöglichkeiten bietet. Indem wir die Re-Figuration der Journalismus/Publikums-Beziehung in den Mittelpunkt unserer Untersuchung stellen, können wir diese reflexiven Prozesse beobachten.
Vor diesem Hintergrund bringen wir verschiedene Stränge der Journalismusforschung zusammen: Zum einen stützen wir uns auf Untersuchungen zur Journalismus-Publikumsbeziehung und ihrem Wandel – nicht zuletzt auf unsere eigenen Fallstudien im Rahmen des Projekts „
Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums“. Zum anderen beziehen wir uns auf die Forschung zum Einfluss dieser Transformationen auf die alltägliche journalistische Praxis und die daraus resultierende Berichterstattung. Beide Themen haben sich in den letzten zehn Jahren zu mehr oder weniger eigenständigen Forschungssträngen entwickelt, die sich zunächst auf den „partizipativen Journalismus“ konzentrierten, und in jüngerer Zeit noch breitere Veränderungen der Beziehung zwischen Journalismus und seinem Publikum in den Blick nahmen, darunter so unterschiedliche Themen wie die Wiederherstellung verlorenen Vertrauens, die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle sowie neue Formen der Publikumsansprache und Präsentation von Nachrichten.
Diese Auswertung der Literatur brachte eine Fülle empirischer Belege für derzeitige Neu-Definierungen der Journalismus/Publikums-Beziehung hervor, die auch erhebliche Auswirkungen auf die journalistische Arbeit und Berichterstattung haben. Dies ist nur plausibel, wenn man bedenkt, dass „das Publikum“ von jeher einen der grundlegenden Bezugspunkte des Journalismus darstellt und Vorstellungen vom Publikum die Produktion journalistischer Beiträge entscheidend mitprägen.
Die aktuelle Forschung zu diesen Entwicklungen ist jedoch fragmentiert; die meisten Studien konzentrieren sich auf Einzelphänomene wie etwa das Management von Publikumsbeteiligung, die Anpassung von Inhalten für ihre Verbreitung auf verschiedenen Plattformen, den Einfluss neuer Metriken der Rezeption und Beteiligung auf das Publikumsbild von Journalistinnen und Journalisten oder den Versuche, Vertrauen und langfristige Beziehungen (wieder-)aufzubauen. Bisher vernachlässigt hat die Forschung die Frage, wie Journalisten mit der wachsenden Komplexität, Kontingenz und Ambivalenz eines zunehmend fragmentierten, „diversifizierten“ Publikums im Kontext des Multiplattform-Journalismus umgehen. Wir haben kaum Erkenntnisse dazu, ob und wie Medienschaffende traditionelle und neue quantitative wie qualitative Informationen über die verschiedenen Untergruppen ihres Publikums wahrnehmen und „miteinander verrechnen“ oder wie sie die unterschiedlichen, oft sogar widersprüchlichen Erwartungen dieser Gruppen miteinander in Einklang bringen. Und schließlich liegt noch im Dunkeln, wie dies die journalistische Arbeitsweise und die produzierten Inhalte beeinflusst.
Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass sich die Journalismusforschung bislang vor allem auf die Nachrichtenproduktion in etablierten Medienorganisationen konzentriert. Im Gegensatz dazu befindet sich die Forschung außerhalb traditioneller Redaktionen noch in einem sehr frühen Stadium und ist weitgehend beschränkt auf Fallstudien zu einzelnen Start-ups, Unternehmer-Journalist*innen, partizipativen Nachrichteninitiativen und -plattformen, durch Crowdfunding finanzierte Projekte, Fact Checking-Websites, Non-Profit-Organisationen oder Kooperativen.
Der Mangel an vergleichenden Studien, die traditionelle mit neueren organisationalen Zusammenhängen kontrastieren, steht im klaren Widerspruch zur Bedeutung, die der Organisation – genauer: ihrer Struktur, ihren Arbeitsabläufen, ihrem spezifischen journalistischen Ansatz und ihren wirtschaftlichen Zielen – in der Literatur beigemessen wird: Sie stellen Rahmenbedingungen dar, welche die Beziehungen von Journalistinnen und Journalisten zu ihrem Publikum, ihre Arbeit und die von ihnen erstellten Beiträge entscheidend mitprägen. Dieses Missverhältnis erscheint noch relevanter, wenn man bedenkt, dass sich in den neuen Organisationsumgebungen eher neue Verständnisse und vermutlich tiefgreifendere Re-Figurationen der Journalismus/Publikums-Beziehung entwickeln und dass gleichzeitig andersherum veränderte Vorstellungen der Journalismus/Publikums-Beziehung die Entstehung neuer Medienunternehmungen stimulieren. Zudem dürften diese neuen Ansätze allmählich von der Peripherie in das breitere Feld sowie den Kern des Journalismus diffundieren und so auch zunehmend die alltäglichen Praktiken etablierter Nachrichtenorganisationen beeinflussen, so wie es zum Beispiel bei den einst neuen Praktiken des Bloggens und Twitterns der Fall war.
Vor diesem Hintergrund ist es das Hauptziel des Projekts, die genannten Forschungsstränge zusammenzuführen und die identifizierten „missing links“ zu untersuchen. So soll systematisch(er) und umfassend(er) geklärt werden
a) wie (tiefgreifend) die Beziehung der Journalismus zu seinem Publikum in ihren verschiedenen Facetten (journalistisches Rollenverständnis, Publikumsbild und -beteiligung, Datafizierung usw.) re-figuriert wird;
b) wie (stark) die wandelnden Vorstellungen der Journalistinnen und Journalisten von ihrer Publikumsbeziehung beeinflussen, welche Inhalte sie produzieren (z. B. „objektive“ Informationen für „passive Rezipierende“ vs. Meinungsbeiträge zu einer Debatte unter „Dialogpartnern“; Newsletter vs. Podcasts vs. Virtual Reality-Storys), wie sie diese erstellen (z. B. inwieweit sie auf Daten, Metriken oder Automatisierung basieren; ob Publikumsmitglieder dazu beitragen oder sie sogar mitproduzieren können); und
c) wie dies mit den unterschiedlichen organisationalen Rahmenbedingungen (z. B. in neuen vs. etablierten Medienorganisationen) zusammenhängt und von diesen geprägt wird.