Ankunft im Radio. Flucht und Vertreibung in west- und ostdeutschen Hörfunkprogrammen 1945-1961
Können Medien helfen, Migranten zu integrieren? Der Zweite Weltkrieg setzte Menschen massenhaft unfreiwillig in Bewegung, darunter 12 Millionen Deutsche aus dem östlichen Europa, die in das verkleinerte Nachkriegsdeutschland flüchteten. Der Hörfunk spielte bei der Integration dieser Menschen eine zentrale Rolle.
Etwa drei bis vier Millionen Flüchtlinge und Vertriebene blieben nach ihrer Flucht in der SBZ und späteren DDR, acht bis neun Millionen zogen in die Westzonen und spätere Bundesrepublik. Das medienhistorische Projekt „Ankunft im Radio“ untersucht die Folgen dieser Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa in der deutsch-deutschen Nachkriegszeit. Dabei wird ein hierfür bislang unerforschter Akteur in den Mittelpunkt gerückt: der Hörfunk. Im Projekt werden west- und ostdeutsche Radioprogramme sowie deren Entstehungskontexte und Rezeptionen analysiert. Bis Ende 2017 soll herausgefunden werden, welche Funktion die Medienangebote im Hörfunk für die Integration der deutschen Flüchtlinge in ihre neuen Lebenswelten übernahmen.
Das Projekt „Ankunft im Radio“ ist ein medienhistorisches Projekt. Es begreift Rundfunk im Allgemeinen, bzw. Hörfunk im Speziellen, nicht nur als ein Medium, das gesellschaftspolitische Prozesse widerspiegelt, sondern als Programmveranstalter, der selbst zum ereignisgeschichtlichen Akteur wird. Radioprogramme sind somit kommunikative Handlungen, durch die der Hörfunk den ihn umgebenden Diskurs aktiv mitgestaltet. Das Projekt schließt mit diesem Ansatz an die aktuelle Medien- und Zeitgeschichtsforschung an. Die Studie versucht durch die Erforschung medial beförderter historischer Integrationsprozesse Aufklärung zu leisten für ein differenziertes Verständnis gegenwärtiger Rundfunkberichterstattung über aktuelle Zwangsmigrationen und Integrationen. Der Zusammenhang zwischen Flüchtlings- und Integrationspolitik einerseits und Berichterstattung im Rundfunk andererseits ist heute täglich präsent, so dass empirisch belegtes Wissen über historische Vergleichsfälle von eminenter Bedeutung ist. Das Projekt nimmt eine deutsch-deutsch verflochtene Perspektive ein und wählt den Untersuchungszeitraum vom Kriegsende 1945 bis zum Mauerbau 1961. Neben den politikgeschichtlichen Zäsuren ist die Zeitspanne definiert von rundfunkgeschichtlichen Umbrüchen: zum einen durch das Ende des Großdeutschen Rundfunks und den Aufbau neuer Rundfunkorganisationen in den vier alliierten Besatzungszonen bzw. in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR; zum anderen durch die Schlüsselrolle des Radios (Hörfunks) im Medienensemble, die erst mit dem Beginn der 1960er Jahre vom Fernsehen abgelöst wurde. Die Jahre zwischen 1945 und 1961 markieren aber nicht nur die sogenannten „radio years“, sondern fallen zusammen mit der unmittelbaren Ankunft und ersten Eingliederung deutscher Flüchtlinge, Vertriebener und Umsiedler, also der ereignisgeschichtlichen Integration der Erlebnisgeneration von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Mauerbau beendete ihre Binnenmigration im Nachkriegsdeutschland. Das Projekt findet in enger Zusammenarbeit mit den historischen und Unternehmensarchiven der Sendeanstalten der ARD sowie mit dem Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) statt. Die historischen Programmangebote sind der Untersuchungsgegenstand des Projekts. Systematisch ausgewertet werden sollen daher rundfunkhistorische Audio- und Schriftgutquellen aus den Beständen von Radio Bremen (RB), des Norddeutschen Rundfunks (NDR), des Westdeutschen Rundfunks (WDR), des Hessischen Rundfunks (HR), des Südwestrundfunks (SWR), des Bayerischen Rundfunks (BR) sowie des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA) an seinen beiden Standorten Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg. Hinzugezogen werden soll veröffentlichte zeitgenössische Kommunikation rund um die historischen Programmangebote. Dieses Material wird diskurshistorisch untersucht. Es geht grundsätzlich nicht nur um Gegenwartsberichte, sondern auch und gerade um die Berichterstattung über die historischen Siedlungsgebiete Deutscher im östlichen Europa. Auch Sendungen über die historischen Herkunftsgebiete der Flüchtlinge, Vertriebenen und Umsiedler gestalteten den Diskurs über ihre Integrationen im Nachkriegsdeutschland maßgeblich mit. Insgesamt entsteht so bis Ende 2017 eine empirische historische Untersuchung über den medienhistorischen Akteur Radio, die neue differenzierte Erkenntnisse über die vielfältigen Formen der Integrationen deutscher Flüchtlinge, Vertriebener und Umsiedler in das geteilte Nachkriegsdeutschland erbringen wird. Das Projekt wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen des Akademischen Förderprogramms 2015-2017 gefördert. Es baut auf den Ergebnissen des vom 18. bis 19. Juni 2015 am Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main durchgeführten wissenschaftlichen Workshops "Rundfunkgeschichten von Flucht und Vertreibung" auf. Dieser Workshop wurde ebenfalls von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert; ausgerichtet wurde er von der Forschungsstelle Mediengeschichte in Zusammenarbeit mit Jun.-Prof. Dr. Maren Röger (Universität Augsburg/Bukowina-Institut) und PD Dr. Stephan Scholz (Universität Oldenburg).
Infos zum Projekt
Überblick
Laufzeit: 2015-2017
Forschungsprogramm: FP3 - Wissen für die Mediengesellschaft
Beteiligte
Drittmittelgeber
Beauftragte für Kultur und Medien
Kooperationspartner
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