Gefährliche Medizin-Fakes im Netz aufspüren und über unseriöse Heilsversprechen aufklären: Das ist die Mission des Online-Magazins MedWatch. Im Interview spricht Gründerin und Chefredakteurin Nicola Kuhrt über die ersten Jahre des Projekts, die Bedeutung ihres Publikums und den Umgang mit Corona-Fake News.
Von Tim van Olphen
Mit Corona hat Medizin- und Wissenschaftsjournalismus an Bedeutung gewonnen. Gefährliche Falschmeldungen im Netz verdeutlichen, wie wichtig es ist, unseriösen Heilsversprechen entgegenzutreten. Zu diesem Zweck gründete Nicola Kuhrt schon 2017, also lange vor der Pandemie, gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalisten Hinnerk Feldwisch-Drentrup das Online-Magazin MedWatch. Seit März 2021 leitet Kuhrt das Magazin als Chefredakteurin allein.
Mit einem Team aus freien Journalist*innen tritt Kuhrt Schindluder und Betrug im Gesundheitsbereich entgegen: Die MedWatch-Macher*innen recherchieren unseriöse Medikamentenangebote, decken Fake News rund um die Themen Medizin und Gesundheit auf, erklären wie die Räder im Gesundheitssystem ineinandergreifen und schreiben alles Wissenswerte, Nützliche und vor allem Belegbare zum Coronavirus auf.
Im Zuge des Projekts „Journalismus und sein Publikum: Die Re-Figuration einer Beziehung und ihre Folgen für journalistische Aussagenentstehung“, mit dem Prof. Dr. Wiebke Loosen und Julius Reimer herausfinden wollen, wie Journalist*innen mit der wachsenden Komplexität ihres Publikums umgehen, haben wir mit Nicola Kuhrt gesprochen. Das Interview führten Julius Reimer und Miriam Wollenweber. Ich bin als studentischer Mitarbeiter ebenfalls am Projekt beteiligt und habe einige der spannendsten Aussagen für den Blog zusammengetragen:
Nehmen Sie uns einmal mit in Ihren Arbeitsalltag. Was macht MedWatch?
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, gezielt medizinische Fake News im Netz aufzuspüren und diesen entgegenzutreten. Das heißt, wir versuchen schadhafte Dinge zu identifizieren und öffentlich richtig zu stellen, und wollen über unseriöse Angebote und dubiose Versprechen aufklären. Den Themenbereich Medizin fassen wir dabei breiter: Wir berichten natürlich über angebliche Wundermittel gegen Corona, dubiose Krebsmedikamente oder die Tücken in den Strukturen des Gesundheitssystems. Das Thema Medizin ist zwar eine Nische, aber eine, die benötigt wird.Mein Arbeitsalltag sieht so aus, dass ich mir so um 5 oder 6 Uhr, wenn ich morgens aufstehe, anschaue, was publiziert wurde. Dabei lese ich viel von Kolleg*innen in den USA: englischsprachige Journals oder die Science and Health-Seiten der New York Times. Ganz wichtig ist auch STAT News, die sehr viel in unserem Themenbereich machen. Natürlich schaue ich auch im deutschsprachigen Raum, was veröffentlicht wurde. In meiner Twitter-Community habe ich viele Expert*innen, Wissenschaftler*innen und Professor*innen, da halte ich mich auf dem Laufenden. Über Facebook, Twitter und via E-Mail erreichen mich dann auch Fragen und Anregungen von Leser*innen, die mich täglich auf bestimmte Themen hinweisen.
Sie haben MedWatch 2017 gemeinsam mit einem Kollegen ins Leben gerufen. Wie haben Sie anfangs das Publikum für sich begeistert?
Wir wollten unsere Leser*innen genauer kennenlernen, weil wir die Idee hatten, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Daher haben wir zunächst erst einmal eine Umfrage gemacht, was die Leute gut finden, welche Themen sie interessieren und was sie sich von MedWatch erhoffen und wünschen. Wir waren total begeistert, wie viele Antworten wir bekommen haben, die Bereitschaft der Leser*innen war riesig. Wir haben dann angefangen Stammtische zu organisieren, beispielsweise in Berlin, Hamburg und München. Dort haben wir Leser*innen getroffen, die sich über das Projekt informieren wollten. Während Corona haben wir die Stammtische online veranstaltet, seit einiger Zeit haben wir auch einen Gast dabei, etwa die Autorin Katharina Nocun, die wir zu ihrer Arbeit über Verschwörungsmythen befragten.Zudem haben wir unsere Leser*innen gebeten, uns medizinischen Themenbereiche zu nennen, in denen sie sich auskennen. Die Idee dahinter war, dass wir uns dann bei Bedarf bei ihnen melden und Fragen stellen können. Wir wissen nämlich, dass viele unserer Leser*innen aus dem Gesundheitsbereich kommen.
Sie haben eben schon Ihre Twitter-Community erwähnt. Sehen Sie dort auch ihre Leser*innen oder benutzen Sie eher eine andere Plattform?
Für uns ist die interessierte Öffentlichkeit wichtig, also Menschen, die in irgendeiner Form einen Bezug zu Gesundheitsthemen und Medizin haben. Ärzt*innen, Pfleger*innen, Apotheker*innen, Politiker*innen und eben auch andere Journalist*innen. Und da funktioniert Twitter gut, weil das die Plattform ist, auf der sich viele dieser Menschen aufhalten. Einen neuen Beitrag setzen wir beispielsweise bei uns auf die Seite, twittern ihn und stellen dazu auch einen Facebook-Post online. Zudem sind manche Stücke dann auch bei piqd zu finden: Das ist eine Plattform, auf der Kurator*innen lesenswerte Beiträge aus dem Netz filtern und der Community empfehlen. Wir planen, bald auch auf Instagram aktiv zu werden.Da wir jetzt schon über Ihre Leser*innen sprechen: Haben Sie eine außergewöhnliche Erfahrung mit Ihrem Publikum gemacht?
Gerade auf Twitter wird viel kommentiert, auch negativ, laut und provozierend. Oft sitze ich dann davor und suche nach Worten – obwohl ich diesen Beruf schon länger mache, bin ich manchmal noch richtig angefasst. Was ich dann aber immer wieder erlebe – und toll finde – ist, dass dann Leser*innen oder Follower*innen geantwortet haben, die Beleidigungen oder falsche Behauptungen etwas entgegengestellt haben. Teilweise entstehen auch neue spannenden Debatten. Das zeigt mir, dass genug Menschen im Netz unterwegs sind, denen es eben auch darum geht, gute Gesundheitsinformationen zu erhalten und abzubilden. Das ist ein großes Anliegen und vielleicht ist das auch ein bisschen das, was den Kern der Freund*innen und Förderer*innen, die wir haben, eint.Sie haben gerade Freund*innen und Förderer*innen genannt. Wie würden Sie Ihr Publikum generell beschreiben?
Unsere Leser*innen würde ich in mehrere Gruppen unterteilen: Die erste ist sehr breit – nämlich praktisch jede und jeder. Wir wollen ja Menschen erreichen, denen im Netz fragwürdige Mittel oder Therapien angeboten werden – auf MedWatch können sie erfahren, ob sie den Versprechen trauen können. Diese Gruppe kommt gelegentlich bei uns vorbei. Dann haben wir viele regelmäßige Leser*innen, das sind Menschen aus dem Gesundheitssystem – also Pflegekräfte, Ärzt*innen, Mitarbeiter*innen aus Gesundheitsämtern, Verbänden und auch aus der Politik.Unter unseren Leser*innen sind auch unsere Unterstützer*innen – also die Menschen, die aktiv an unseren Recherchen interessiert sind und die oftmals etwa durch eine Spende an MedWatch etwas gegen Medizin-Fakes unternehmen wollen. Und dann gibt es natürlich auch eine große Gruppe von Leuten, die einfach pöbeln wollen. Gerade im Themenbereich Homöopathie / Heilpraktiker oder Impfen, das muss man einfach so sagen. Das ist eine größere Gruppe, die ich zu einer Art Teil-Publikum zählen würde.
Sie sagten „größere Gruppe“: Sind das mehr Menschen als Ihre eigentlichen Leser*innen?
Das glaube ich nicht, aber das sind die, die lauter schreien und mehr schreiben. Die Leser*innen, die die Beiträge zur Information nehmen oder sie wahrnehmen und es okay finden, die würden nie einen Pöbel-Kommentar schreiben, sondern das sind nur die, die die Berichterstattung generell nicht mögen. Die mögen nicht, dass wir schreiben, dass ein bestimmtes Medikament eben keines ist, sondern nur Hokuspokus.Gerade während der Corona-Pandemie konnte man viele absichtliche Falschmeldungen im Netz verfolgen, zum Beispiel zu den Impfstoffen. Beschäftigt Sie das?
Absolut! Ich habe festgestellt, dass es nicht viel bringt, Menschen, die gegen das Impfen sind, mit unzähligen Fakten pro Impfung zu begegnen. Nicht nur bei den Corona-Impfstoffen, sondern auch bei anderen Krankheiten, Masern zum Beispiel. Auch wenn man weiß, dass es eine schlimme Krankheit ist und man mit Impfungen Kinder schützen kann und das auch wichtig und logisch ist, gibt es trotzdem Menschen, die das nicht wollen. Ich denke, wenn ich dann aber als Wissenschaftsjournalistin daherkomme und sage, dass Impfen toll ist und doch alles wissenschaftlich belegt ist, dann fühlen sich diese Menschen eher bevormundet. Sie finden mich sicher arrogant und denken, ich machte ihnen Vorschriften. Damit ist dann auch niemandem geholfen. Man sollte hier eine andere Art der Kommunikation wählen, auch in den Texten, die wir schreiben.Was können wir dann dagegen tun?
Wenn man mit Impfkritiker*innen oder Impfgegner*innen spricht, kann man versuchen, erst einmal zu ergründen, woher diese Ablehnung rührt und darauf eingehen. Und durchaus erzählen, was man selbst getan hat, also dass man sich hat impfen lassen, wie das war und warum. Dabei aber wirklich ein Gespräch suchen und nicht direkt nur Fakten, die es natürlich gibt, über dem Gegenüber ausschütten.In den aktuell immer noch hitzigen Debatten ist es zudem ein wichtiger Hinweis, dass man genau prüfen sollte, ob die/der behauptete Expert*in in diesem Kontext tatsächlich eine*r ist oder eher nicht. Nicht jede*r, die/der einen Doktortitel vor dem Namen stehen hat, dessen Meinung ist entscheidend für ein Thema. Äußerungen können dann bewusst oder unbewusst irreführend sein.
Bisher hieß es immer, man solle bei jeder Nachricht prüfen, ob Quellen angegeben sind. Das reicht nicht mehr. Mittlerweile stehen bei Fake News oft sogar mehr Quellen dabei als bei einer normalen Meldung. Wir hatten gerade kürzlich ein Stück, in dem behauptet wurde, das Trinken einer Mischung aus Chlorbleiche helfe gegen Corona. Als Belege waren 32 medizinische Studien gelistet. Wir haben sie alle geprüft – nicht eine enthielt einen tatsächlichen Beleg. Im Gegenteil, manche Studien waren Jahrzehnte alt, viele stammten aus zweifelhaften Journals, und in den Studien wurde das vermeintliche Wundermittel gegen Sars-Cov-2 als Mundspülung getestet oder zur Vermeidung von Verwachsungen in der Beckenchirurgie.
Wie sollen Menschen, die sich nicht jeden Tag intensiv mit medizinischen News beschäftigen können, das unterscheiden können?
Eine letzte Frage: Wie wichtig ist Ihnen Ihr Publikum, wie wichtig ist es für die Arbeit von MedWatch?
Für MedWatch ist unsere Leserschaft wirklich ein essenzieller Bestandteil des ganzen Konzepts: Wir machen nicht ein bisschen MedWatch und dann auch noch ein bisschen Community. Sondern es ist ein Gemeinschaftsprojekt, wobei wir natürlich stets als Journalist*innen handeln. Wir sind keine Campaigner*innen. Das finde ich ganz wichtig. Aber Medizin ist nun mal ein Thema, das jeden und jede interessiert, und Gesundheit betrifft uns alle – das sieht man jetzt mit Corona noch mehr als früher. Ich finde, das geht nur gemeinsam, zusammen mit den Menschen.___
Unsere Blogreihe „Journalismus und sein Publikum“ präsentiert Gespräche mit Medienschaffenden über die Beziehung zu ihren Leser*innen, Hörer*innen und Zuschauer*innen. Die Interviews entstanden im Rahmen unseres Forschungsprojektes „Journalismus und sein Publikum: Die Re-Figuration einer Beziehung und ihre Folgen für journalistische Aussagenentstehung“.
Foto: Sandra Birkner